Die Grammatik der Veränderung: das 5-Grenzen-Prozessmodell

von Rainer Molzahn


5-Grenzen-Prozessmodell

 

Wenn Coaching Hilfe in Veränderungsprozessen sein soll, ist es gut, ein tiefes Verständnis davon zu haben, wie Veränderungsprozesse sich vollziehen:

 

Wie sie beginnen, wie sie verlaufen, und wie sie enden – jedenfalls vorläufig enden, denn in Wirklichkeit ist das ganze irdische Leben ja ein nie endender, sich immer wieder aus- und einfaltender Prozess des Werdens und Vergehens und wieder Werdens. 


Das 5-Grenzen-Prozessmodell

Das 5-Grenzen-Prozessmodell, so wie wir es in der Coaching-Ausbildung lehren und anwenden, ist ein Meta-Modell für Veränderung, in dem alle Ansätze und Methoden ihren Platz finden. 

 

Das Zauberhafte ist: Jeder, wirklich jeder, Veränderungs- und Transformationsprozess geschieht in der Auseinandersetzung mit und der Bewältigung der 5 Grenzen. Das ist für uns als Personen ein wertvoller Leitfaden, wenn wir feststecken oder uns innerlich verlaufen haben.

 

Wenn wir in einer Rolle – als Coach oder Berater – andere begleiten, ist es unser Navigationsinstrument. Wo ist unser Coachee gerade, was ist die Herausforderung, wie kann ich als Katalysator wirken, welche Grenze ist heiß?

Grenze 1: Wahrnehmung

Anpassungs- und Veränderungsprozesse beginnen immer mit der Wahrnehmung von dem, was auf uns einwirkt – speziell mit der Wahrnehmung, dass etwas anders ist als üblich. Allein dieser Akt der Wahrnehmung braucht schon unsere aktive Beteiligung, er ist also kein rein physikalischer Vorgang. Um wahr¬zunehmen, müssen wir hinschauen, hinhören, hinriechen,  hinspüren …,  gerade wenn es um die Wahrnehmung von Dingen geht, die sich von dem unterscheiden, was wir gewohnt sind und bisher als selbstverständlich voraussetzten. Allein die Richtung und Intensität unserer Aufmerksamkeit ist schon abhängig von einer ganzen Reihe von Voraussetzungen, die weder in rein physikalischen noch in vollkommen zufälligen, ‚magischen‘ Gegebenheiten wurzeln.

 

Im Allgemeinen ist es so, dass wir eine gewisse Schwelle (eine Grenze) aufrichten gegen die Wahrnehmung, dass irgendetwas auf einmal anders ist, als wir es gewohnt sind, denn wir haben schon mit dem Tagesgeschäft des Lebens genug zu tun.

 

Der Grenzzaun um das Heimatgrundstück unserer Identität kann so hoch sein, dass wir die Signale, die uns zur Veränderung aufrufen, lange Zeit überhaupt nicht wahrnehmen. 

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Grenze 2: Information

Jeder wahrgenommene Unterschied (im Vergleich zu dem, was vorher war oder sonst ist) ist eine Information. Diese Information fassen wir in Sprache; wir benennen sie. Erst wenn das passiert ist, können wir sie weiter prozessieren. Was wir nicht sprachlich beschreiben können, lässt uns sprachlos – und damit hilflos.

 

Wie wir den sinnlich wahrgenommenen Unterschied benennen, welche Worte wir gebrauchen, um ihn zu beschreiben, ist ausschlaggebend für alles, was wir danach damit machen, oder nicht. Wenn es eine magische Dimension im Informations-Bedeutungs-Prozess gibt, dann hier: in der Welten erschaffenden Macht der sprachlichen Benennung.

 

Wenn die Signale so stark sind, dass wir sie nicht mehr verleugnen können, stehen wir vor der zweiten Grenze. An dieser sind wir aufgefordert, unsere Aufmerksamkeit auf das zu richten, was uns in Schwierigkeiten bringt. Noch verstehen wir nicht, wozu uns die von außen kommende Störung aufruft und in welcher Beziehung sie zu unserem Denken und Handeln steht. 

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Grenze 3: Bedeutung

Der nächste Schritt in der Auseinandersetzung mit der Information ist dann der, dass wir dieser Information (oder diesen Informationen) eine Bedeutung zuschreiben. Manchmal muss das sehr schnell gehen: wenn unser Auto streikt und wir mitten auf den Schienen stehen geblieben sind, während sich ein ICE sehr schnell nähert (Information), wird uns umgehend klar: schnell raus aus dem Auto, über die Schranken hüpfen und wegrennen, sonst sind wir tot (Bedeutung).

 

Manchmal müssen uns Dinge mehrmals oder gar ständig passieren, bevor wir das Muster erkennen (Information) und dazu aufwachen, dass wir unser Verhalten verändern müssen, damit das nicht mehr passiert (Bedeutung). Das ist dann bei Sachen so, die nicht unmittelbar tödlich sind (ICE), sondern eher längerfristig schädlich (Beziehungen, Gesundheit, Karriere, tausend Dinge). 

 

Bedeutung erkennt man an zwei Eigenschaften; wir bekommen Gefühle, und wir werden mit der Frage konfrontiert, wie wir handeln. Im Umkehrschluss heißt das, dass jede Information, die bei uns keine Gefühle hervorruft und uns nicht zum Handeln auffordert, bedeutungslos ist. In ihrer schlichtesten Form, sozusagen für die Endverbraucher*innen von Vertriebstrainings, ist Bedeutung entweder gut oder schlecht, angenehm oder unangenehm, Lust oder Unlust, Chance oder Risiko, :-) oder :-(.

 

In Wirklichkeit sind die Schattierungen und Variationen von Bedeutung natürlich viel, viel größer und vielschichtiger, aber dies bleibt doch: Jede Information, die in uns Gefühle auslöst, fordert uns dazu auf, uns mit der Frage zu beschäftigen, wie wir handelnd darauf antworten wollen.

 

Wenn wir so weit sind anzuerkennen, dass das, was uns zustößt, etwas mit uns zu tun hat, stellt sich als Nächstes die Frage, welche Bedeutung die Störung für uns hat. Wozu fordert sie uns heraus? Wenn uns das klarer wird, kommen wir an die nächste Grenze. 

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Grenze 4: Identität

Sich überhaupt bewusst darüber Gedanken zu machen, wer wir sind, ist nicht etwas, das wir oft oder gerne oder ohne triftigen Anlass tun. Das ist gut so, denn wenn wir das ständig täten, bekämen wir unser tägliches Leben nicht gebacken, und wenn unsere Antworten auf die Frage ‚wer bin ich‘ dann auch noch situativ variieren, kriegen wir eine ernsthafte psychiatrische Diagnose – mal abgesehen davon, dass wir zu einer Zumutung für unsere Umgebung werden.

 

Sich die Frage nach der eigenen Identität aber niemals zu stellen, ist fast genauso undenkbar, denn das Leben findet Wege, uns mit ihr zu konfrontieren, auch wenn – und manchmal gerade wenn – es uns eigentlich gar nicht in den Kram passt.

 

Die Frage nach unserem Selbstverständnis wird vor allem dann akut und bedarf dann der vorsätzlichen Reflexion, wenn der Prozess der Bedeutungsgebung, den wir bisher durchschritten haben, uns zumindest mit der realistischen Aussicht konfrontiert, dass ein entsprechendes Handeln uns in Konflikt mit unserem Selbstbild, mit unserer Rolle und also auch mit denen bringt, von denen wir und die von uns abhängig sind.

 

Immer, wenn wir unseren inneren Dialog wiederholt mit der Bilanz abbrechen: „das kann ich nicht machen“. Wenn wir also in letzter Konsequenz und in unseren schlimmsten Befürchtungen mit unserem Tun einen Rausschmiss aus unserer Gemeinschaft riskieren. Deswegen will hier gut überlegt sein, bevor wir überstürzt handeln, was unser Handeln für uns, unser Leben und für die anderen mit sich bringt – und wie das unter Umständen auf uns zurückwirkt.

 

Jetzt wird es wirklich heiß, denn nun geht es um uns. An dieser Grenze begegnen wir uns selbst. Indem wir wahrnehmen, wie wir im Hier und Jetzt auf das reagieren, was uns zustößt, werden uns unsere Überzeugungen, Glaubenssätze und Werthaltungen bewusst.

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Grenze 5: Handeln

Wenn wir uns dabei beobachten, dass wir uns sehr ernsthaft fragen, wie die anderen wohl reagieren werden, wenn wir jetzt beginnen, so zu handeln, wie es uns mittlerweile innerlich stimmig erscheint, in Einklang mit unseren Neigungen, Werten und Fähigkeiten: dann wissen wir, dass wir uns akut an der Grenze 5 unseres transformativen Entwicklungsprozesses befinden. Jetzt kommt es darauf an. Bis hierher war es Privatsache; jetzt wird es öffentlich.

 

Wenn die Schlüsse, zu denen wir gelangt sind, in einem anderen Verständnis unserer Rolle münden, betrifft das alle anderen in deren Rollen. Wenn wir unsere Rolle abgeben oder ganz neu definieren, sowieso: das gesamte System gerät durcheinander und ist als Ganzes herausgefordert.

 

Ich muss also im milderen Fall damit rechnen, als personifizierte Störung wahrgenommen und vielleicht abgetan zu werden. Ich muss auf jeden Fall mit Kritik rechnen, eventuell auch damit, lächerlich gemacht und verhöhnt, im schlimmeren Fall geächtet und als Agent der Fremden diffamiert, im schlimmsten Fall und in unseren düstersten Befürchtungen entlassen, gekündigt, rausgeschmissen zu werden. Höchststrafe. Deswegen ist Grenze 5 von allen die anspruchsvollste, denn hier beginnen wir wirklich, Tatsachen zu schaffen, die nicht mehr ungeschehen zu machen sind. All unser Mut ist gefordert. 

 

An Grenze 5 stehen wir vor der Notwendigkeit, die Konsequenzen zu ziehen, die sich aus unserem Erkenntnisprozess ergeben. Wir sind aufgerufen, tatsächlich anders zu handeln. 

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Herausforderung als Coach

Der 5-Grenzen-Prozess läuft, fast in Lichtgeschwindigkeit, ständig ab und gleichzeitig ist er das Muster in langfristigen Veränderungen. Die Prozesse sind miteinander verwoben und drehen Schleifen – kurzfristig, mittelfristig und langfristig.

 

Diese 5 Grenzen durchläuft nicht nur der Coachee, sondern auch der Coach. Und das nicht nur im normalen Leben, sondern unmittelbar im Hier und Jetzt, während beide miteinander arbeiten. Darüber hinaus sind die 5 Grenzen nicht nur ein Prozessmodell, sondern auch ein Strukturmodell…. Na, wenn das nicht anspruchsvoll ist? 

 

Die gute Nachricht: Bei jedem Veränderungsprozess sind wir danach ein bisschen mehr wir selbst, wir sind freier und wirkungsvoller. Und das macht doch Lust auf mehr, oder?

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Dieser Text ist ein Auszug aus der Buchreihe "Transformatives Coaching und Mentoring".


Person und Rolle im transformativen Coaching

Rainer Molzahn

 

Leiter der Coaching-Ausbildung, Leadership-Coach und Autor

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Axel Axolotl (Donnerstag, 24 Oktober 2019 18:26)

    Cooles Zeug! Keep rocking!

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