von Anne Grökel
Zeitig am Morgen klingelt der Wecker.
Ich stehe auf, versorge die Haustiere, wecke die Kinder und mache das Frühstück. Im Lockdown hat zeitweise keiner von uns das Haus verlassen, außer zum Einkaufen und Gassi gehen.
Das klingt erstmal verlockend nach Urlaub zu Hause, ist aber spätestens nach zwei Wochen alles andere als Urlaub.
Je nach dem Alter der Kinder gibt es einen unterschiedlich starken Betreuungsaufwand. Da gibt es die (Fast-) Abiturientin, für die jede Note ins Zeugnis zum Abschluss zählt. Es gibt die Altersklassen von 5. – 10. Klasse, die mit etwas Glück relativ selbständig lernen, oder aber einen intensiven Betreuungsbedarf haben. Da gibt es Grundschüler, die vielleicht gerade erste Lesen und Schreiben lernen. Vielleicht gibt es dazu noch ein Kindergartenkind oder sogar einen Säugling. Und in vielen Familien leben Menschen mit Beeinträchtigungen. Und die Eltern sind häufig neben all diesen Herausforderungen berufstätig und versuchen zwischen der Hausaufgabenbetreuung und dem Stillen noch zu arbeiten. All diese Szenarien kommen in unseren Familien vor.
Gab es vor der Pandemie ein breit gefächertes soziales Unterstützungssystem, so ist es spätestens mit den Kontakteinschränkungen auf ein absolutes Minimum reduziert worden. Familien leisten gerade Übermenschliches. Unter einem Dach befinden sich derzeit ein vielleicht auch zwei Büros, Klassenzimmer mit gemischtem Alter, Kindergarten, Förderzentrum, Mensa oder Schulspeisung und natürlich eine Turnhalle für den körperlichen Ausgleich. Nur selten kann man davon ausgehen, dass es sich bei meiner Aufzählung immer um getrennte Räume handelt. Was am Vormittag das Klassenzimmer war, ist in den späten Abendstunden ein Büro.
Normalerweise haben Eltern in der Familie feste Rollen inne. Sie sind in den Augen ihrer Kinder Mutter und Vater. Manchmal gibt es dann noch Bonusmutter oder Bonusvater, manchmal gibt es nur Mutter oder Vater. Es gibt auch zwei Mütter oder zwei Väter. Aber in allen Fällen handelt es sich um die Eltern der Kinder. Doch seit einigen Monaten sind Eltern plötzlich Lehrer*innen, Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen, Köch*innen, Einkäufer*innen, Friseur*innen und Systemadministrator*innen (für digitale Endgeräte oder zusammenbrechendes WLan).
Ja, natürlich waren sie das ein Stück weit auch vorher. Mal mehr und mal weniger. Das Herausfordernde daran ist, dass sie es nun täglich und zwar fast simultan sind. Konnten sie diese Rollen vorher delegieren, um sich auf eine Rolle zu konzentrieren, haben sie nunmehr keine andere Wahl, als alle diese Rollen zu halten. Nahezu jegliche Hilfe ist durch die Pandemie weggebrochen.
Und wie geht es den Kindern damit? Sie vermissen ihre Eltern, weil sie sie vor lauter Rollen nicht mehr sehen können. Sie vermissen Gleichaltrige, die ihnen dabei helfen, sich im sozialen Gefüge einzufinden. Sie vermissen den einfühlsamen Trost der Familie, wenn es schulisch schlecht läuft. Wenn die Lehrkraft und die Eltern in einer Person verkörpert werden, geraten sie in einen Rollenkonflikt. Den Eltern geht es genauso. Wer ist sich denn ständig gewahr, welche Rolle er gerade einnimmt? Insbesondere in Krisen, wenn man sich von einer drastischen Veränderung zur nächsten getrieben fühlt, schwinden die Momente, in denen man sich sehr bewusst macht, welche Rolle es in den jeweiligen Situationen braucht. Wie geduldig kann man dann noch reagieren, wenn das Kind nach drei Wochen im Homeschooling jeden Morgen sagt, dass es keine Lust mehr auf Schule hat? Die Nerven liegen irgendwann einfach blank.
Was trägt die Familien gerade durch die Krise? Es ist vermutlich die bedingungslose Liebe, die die Energie liefert, diese schwierigen Zeiten durchzustehen. Damit findet man immer wieder zueinander. Ist das nicht wundervoll? Wir Eltern lieben diese unmotivierten Schülerinnen und Schüler von ganzem Herzen, weil sie unsere Kinder sind. Wir sehen ihr Leid hinter all den Beschränkungen und haben aus unserem eigenen Erleben dieser Krise vollstes Verständnis für sie. Zeigen Sie dies Ihren Kindern, am Besten täglich! Das Wundervollste und Zarteste, was wir alle gemeinsam in Familien haben, und was uns noch dazu hilft, diese verflixte Krise zu meistern, ist unsere Liebe füreinander.
Und für diejenigen, die all ihren Frust gern irgendwo loswerden möchten, um ihn nicht zu Hause zu entladen, gibt es die Coaches für transformatives Coaching.
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Alessandra Novetskij (Samstag, 17 April 2021 19:49)
Oh Anne. Ich danke dir. Ich fühle mich gesprochen.
Jeanne Thon (Montag, 21 Juni 2021 10:36)
Liebe Anne, deine Schärfung des gefühlten Chaos auf die Rollen ist überaus hilfreich und erhellend! Danke für diese Aha-Erlebnis!