Grenze gegen die Information

von Rainer Molzahn


Grenze gegen die Information

Die 2. Grenze in Veränderungsprozessen ist die Grenze gegen die Information.

 

Der Akt des Benennens ist wie eine Geburt. Etwas ist, weil gesagt, in der Welt und kann nun betrachtet und entfaltet werden. Der Name, den wir wählen, entscheidet darüber, wie es weitergeht mit der Information.

 

Beschäftigen wir uns überhaupt tiefer damit, wo suchen wir nach Antworten, welche Erklärungsmodelle greifen wir uns? Die Benennung ist also schicksalhaft für den weiteren Weg. Deshalb ist es hier besonders sinnlos, schnell weiter zu hetzen, um „das Ding ohne Namen“ zu lösen.


Sobald wir unsere bewusste Aufmerksamkeit auf etwas richten - sei es auf etwas, was innerhalb unseres Körpers vor sich geht, oder auf etwas außerhalb unserer Körpergrenzen - nehmen wir nicht einfach nur durch unsere Sinneskanäle wahr, sondern auch durch Sprache. Wir benennen, was wir bewusst wahrnehmen, während wir es wahrnehmen. Das tun wir so routiniert und es ist uns so selbstverständlich, nachdem wir es als kleine Kinder erst einmal gemeistert haben, dass so eminente Koryphäen wie Ludwig Wittgenstein oder Anatoli Lipkovitz sich zu Diagnosen hinreißen ließen wie:  

"Das Ende deiner Sprache ist das Ende deiner Welt"

Das ist wahrscheinlich nicht völlig uneingeschränkt wahr, denn wir alle kennen Zustände, die sich in Sprache nur sehr dürftig wiedergeben lassen, aber die sind nicht alltäglich und oft überwältigend, aber wir brauchen, um sie überhaupt verarbeiten oder kommunizieren zu können, doch wieder Sprache.

 

Wenn wir das Benennen von Wahrnehmungen nicht sowieso quasi automatisch vornehmen, kennen wir alle die Anstrengung, die es beinhaltet, die ‚richtigen‘ Worte zu ringen, um eine außerordentliche sinnliche Erfahrung beschreiben zu können. Und das müssen wir.

 

Wir müssen unsere Wahrnehmungen und Empfindungen (die natürlich auch Wahrnehmungen sind) in Sprache fassen können, weil wir sie erst dann mitteilen können. Und erst, wenn wir sie mitteilen können, werden sie real.

 

Alles, was wir überhaupt nicht in Sprache fassen können, bleibt im eigentlichen Sinne unwirklich: es bewirkt nichts, weil wir, ohne es sprachlich zu beschreiben, nicht darauf antworten können, außer vielleicht reflexhaft.

 

Abgesehen mal davon, dass wir sehr allein sind mit allem, was wir nicht beschreiben und also mit anderen teilen können. Die Folge davon ist nämlich, dass wir unseren eigenen Wahrnehmungen, unseren eigenen Sinneswahrnehmungen nicht mehr vertrauen. Ganz schlimme Sache.

 

Also: unser Bedürfnis, und unsere Fähigkeit, in Sprache zu benennen, was wir erfahren oder erfahren haben, ist nicht nur einer der Grundpfeiler dessen, was uns menschlich macht. Es ist auch der zweite Schritt im Prozess der Signalverarbeitung, der damit beginnt, einer sinnlichen Erfahrung ausgesetzt zu sein, und der damit endet, auf diese Erfahrung zu antworten.

Die Armut und die Macht der Sprache

Sobald wir beginnen, eine sinnliche Erfahrung in Sprache zufassen und ihre potenziellen Implikationen forschend und beschreibend zu erkunden, passiert zweierlei: 

 

Wir erzeugen nach der Selektion unserer sinnlichen Eindrücke durch die Filter unserer Benennungen eine weitere, geradezu atemberaubende Datenreduktion. Wir fahren mit unserem SUV während unseres durch irgendein Kundenbindungs-programm teilfinanzierten Abenteuerurlaubs durch eine Szene, und wir erzählen uns (und später zu Haus unseren leicht neidischen Angehörigen) diese Geschichte: „…Und wir fahren da durch diese absolute Traumlandschaft, Ostafrika, wie es schöner nicht sein kann, du verstehst, und dann dieser unglaubliche Sonnenuntergang. Als wenn der extra für uns war; weißt, wie ich mein. Das sind so die Momente, da könnte man [tiefes Durchatmen, Pause] …

 

“Jedes Wort ist bereits eine auf die äußerste Spitze getriebene Abstraktion über Millionen von Sinnesdaten (‚Sonnenuntergang‘). In dieser Datenreduktion liegt die Armut der Sprache, denn sie kann niemals die ganze Qualität unseres sinnlichen Erlebens wiedergeben oder vermitteln.

 

Gleichzeitig erschaffen wir durch Sprache, und durch die Art, wie wir sie benutzen, unsere Welt: Was wir in Sprache überhaupt zu einem ‚Hauptwort‘/Ding erklären, und welchen Namen wir diesem Ding geben (‚Tisch‘, ‚Stuhl‘, ‚Sonnenuntergang‘, ‚Laktoseintoleranz‘, ‚Politikverdrossenheit‘, ‚Kohlekrise‘, ‚Kommunikationsproblem‘, ‚Hypersensitivität‘ etc.) ist absolut ausschlaggebend dafür, wie wir weiter mit unseren Erfahrungen umgehen, wie wir sie verarbeiten, bewerten und auf sie reagieren werden.

 

Wie wir die Wörter, die wir benutzen, dann weiterhin zu Sätzen aneinanderreihen: das drückt aus, welche Beziehungen wir zwischen den benannten Dingen unterstellen. „Er hat sie mehrfach öffentlich runtergeputzt“. „Das Motivationsdelta führte zu einer suboptimalen Gesamtperformance“. „Die globale Erwärmung wird eine Erhöhung des Wettbewerbsdrucks zwischen den Volkswirtschaften nach sich ziehen“. „Du machst mich irre“…

 

Es bestimmt, welche Ursache-Wirkungs-, welche Täter-Opfer-, welche Erforschungs- oder Lösungsstrategien wir ersinnen und anwenden werden. Darin liegen die Macht und die Magie der Sprache. Kein Wunder, dass in den meisten Märchen und Mythen Wörter reichen, um Zauber zu bewirken: „Am Anfang war das Wort“.

 

Das ist keine Erfindung von uns, und es ist keine Übertreibung. Es ist nur die anschauliche Beschreibung von dem, was uns Menschen so unerklärlich mächtig macht und uns vom Rest der Schöpfung so krass unterscheidet: dass wir mit Sprache zaubern können, weil wir durch unser Benennen nämlich erst real werden lassen, was auf uns wirkt, und das, womit wir darauf antworten. Hammer. 

Die Wirkung von Sprache

Sobald wir unsere bewusste Wahrnehmung auf etwas richten, können wir gar nicht anders, als es bereits im Akt des Wahrnehmens zu benennen. Die Worte, derer wir uns bedienen (oder die sich evtl. auch unserer bedienen), um eine Erfahrung verständlich, kommunikabel und beantwortbar zu machen, sind weichenstellend dafür, wie wir weiter mit unserer Erfahrung umgehen und in welche Handlungen wir sie übersetzen werden.

 

Die Datenreduktion, die an Grenze 2 stattfindet, ergibt sich zum einen aus der ‚Natur‘ der Sprache selbst: Wörter sind immer digitale Abstraktionen über analoge Impressionen. Es ist  immer wieder beeindruckend, sich klarzumachen, dass ein Buch, dessen Text 1.000 Seiten füllt, und das meinem Gehirn beim Lesen einen inneren Film beschert, der sich über die wochenlange Lektüre erstreckt, auf der Festplatte meines Notebooks gerade mal 2 MB beansprucht. So viel wie ein Zwei-Minuten-Popsong als MP3. Und dass andererseits der Bilderfluss, den die Worte auslösen, wiederum in kaleidoskopische innere Welten von Empfindungen, Assoziationen und Reflexionen mündet!

 

Die Reduktion der Datenmenge ergibt sich zusätzlich daraus, dass Sprache immer empfängerorientiert verwendet wird. Schließlich dient sie dem Austausch von Informationen zwischen mindestens zwei Beteiligten. Zu wem wir sprechen, hat also entscheidenden Einfluss darauf, welche Worte wir wählen. Was teile ich, was fasse ich wie präzise in Worte, was deute ich an oder impliziere es, was verschweige ich?

 

Auch wenn wir unsere Erfahrung zunächst oder niemals mit jemand teilen, so sind doch wir selbst in unserem eigenen Bewusstsein, die Empfänger unserer Formulierungen. Wir achten in unserem Sprachgebrauch immer darauf (auch, wenn es uns nie vollkommen gelingt), wie unsere Wortwahl auf den Empfänger wohl wirkt – was und wie viel unserer wahrgenommenen Information, unserer persönlichen Wahrheit wir ihm oder ihr zumuten wollen oder können.

 

Auch dieser Aspekt von Sprache filtert, reduziert und moduliert den Signalfluss zwischen Wahrnehmung und Handeln auf eine kulturell spezifische, zutiefst menschliche Art und Weise. 

Der Akt des Benennens

An der Grenze 2 findet also der magische, welterschaffende und welterhaltende Akt des Benennens statt. Der Name, den man der wahrgenommenen Störung gibt, entscheidet über ihr weiteres „Schicksal“. Ob man ihr tiefer nachgeht, und wenn ja, wo man dann nach Antworten sucht: außen oder innen, in der Tiefe oder der Breite, in der Vergangenheit oder Zukunft, Qualität oder Quantität.

 

Nehmen wir den Begriff „Umweltverschmutzung“, der Anfang der 1970er-Jahre erstmalig in unserem kulturellen Bedeutungsraum auftauchte. Er ist reine Sprachmagie: nachdem die Kultur zur Welt geworden war, wurde die Welt zur Um-Welt – eine Welt rund um die eigentliche Welt herum, so, als sei die Natur eine Art Kulisse, vor der die wirklich wirkliche Welt stattfindet. 

 

Wie viel trefflicher wäre es, wenn wir „Weltverschmutzung“ sagen würden und das Problem in der Folge so behandelten. Organisationen konstatieren ein Einnahmen- oder ein Ausgabenproblem, im politischen Bereich kennen wir Vermittlungs-, Akzeptanz- und sonstige Probleme, als Personen finden wir uns zu schüchtern, nachgiebig, aufbrausend, gutmütig oder ehrlich – die ersten Benennungen sind immer oberflächlich.

Die Grenze gegen die Information sorgt also dafür, dass wir Störungen schnell identifizieren, als wichtig oder unwichtig erkennen und in eine Kategorie einordnen können. Während dieser Mechanismus im Alltag überlebensnotwendig sein kann, verwandelt er sich in transformatorischen Krisen in ein Hindernis, denn Benennungen liegen Vorannahmen zugrunde. Die Grenze gegen die Information richtet sich dagegen, dem was man benennend wahrgenommen hat, mit offenem Geist forschend weiter nachzugehen.

zum Weiterlesen: Grenze gegen die Bedeutung

Dieser Text ist ein Auszug aus der Buchreihe "Transformatives Coaching und Mentoring".


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Rainer Molzahn

 

Leiter der Coaching-Ausbildung, Leadership-Coach und Autor

 

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