von Rainer Molzahn
Die allererste Grenze in Veränderungsprozessen ist unsere Wahrnehmung.
Sie ist meist weniger sensibel und klar, wie wir uns das gern wünschen würden. Wir haben Dinge zu tun, Ziele zu erreichen, sind identifiziert mit speziellen Interessen, haben unsere Annahmen über uns und die Welt und so weiter.
Bis die Daten, die uns zu einer Veränderung aufrufen, wirklich unser Bewusstsein erreichen, können manchmal Jahre vergehen.
Veränderungsprozesse beginnen immer damit, sinnlich etwas ausgesetzt zu sein, das auf uns einwirkt. Von nichts kommt nichts, um hier eine unserer ewigen Volksweisheiten zu zitieren. Niemand verändert etwas, solange nicht irgendetwas aus dem außen ihn oder sie zu der Ahnung aufweckt, dass es eine gute Idee sein könnte, das zu tun. Warum auch?!
Schutz vor Handlungsunfähigkeit
Physikalisch betrachtet ist es so, dass wir beständig Trilliarden von Reizen aus dem Außen ausgesetzt sind. Wenn wir ständig auf alle Reize reagieren würden, die auf uns einströmen, wäre das nicht nur biologisch fast unvorstellbar, wir kämen auch ganz praktisch betrachtet wirklich zu gar nichts mehr. Wir wären komplett handlungsunfähig.
In den meisten Situationen des Lebens sprechen wirklich viele gute Gründe dagegen, zu viel wahrzunehmen. Abgesehen mal davon, dass unsere lieben Sinnesorgane schon physiologisch nach dem Konstruktionsprinzip gebaut sind, die auf sie einströmende Datenmenge pragmatisch zu reduzieren: wir sehen schon biologisch nur Lichtwellen eines begrenzten Spektrums, wir hören nur Schallwellen eines bestimmten Frequenzbereichs; wir können nur eine begrenzte Anzahl von Geruchsqualitäten unterscheiden. Wenn man zu diesen quasi naturgegebenen und dauerhaften Begrenzungen unserer Wahrnehmungsfähigkeit noch solche hinzuzählt, die sich situativ aus unserem verständlichen Bedürfnis ergeben, unseren Absichten entsprechend handlungsfähig zu bleiben, dann wird anschaulich klar:
Es gibt in uns einen Schutzwall gegen zu viel Wahrnehmung. Er beschützt uns davor, ständig und ungefiltert und sofort auf alles reagieren zu müssen, also nicht einfach als Wirkung einer externen Ursache zu funktionieren, als Reaktion auf einen Reiz. In der sprachlichen Welt, in der wir als transformative Coaches unsere Arbeit tun, nennen wir diesen Schutzwall eine Grenze.
Schutz vor Veränderung
Wir alle haben ein fast zauberisch feines Gespür, das uns, nahezu unbemerkt von uns selbst, dazu inspiriert, am liebsten erstmal gar nichts zu merken, wenn das Leben uns mit etwas konfrontiert, das in Frage stellen könnte, wie wir es gewohnt sind, unser Leben zu führen. Unsere Fähigkeit wegzuschauen, wegzuhören, nicht zu fühlen ist mindestens so erstaunlich wie unsere Begabung, das Gegenteil davon zu tun.
Meist müssen uns Dinge wiederholt und immer wieder passieren, bevor wir den Entschluss fassen, unser Nichtwahrnehmen zu beenden. Und selbst, wenn wir so richtig auf die Schnauze bekommen (wir erkranken, werden verlassen oder gekündigt, haben einen Unfall etc.), so dass wir eigentlich nicht mehr weggucken können, brauchen wir oft Wochen oder Monate, um uns überhaupt der sinnlichen Realität dessen, was uns widerfahren ist, in seiner ganzen Größe zu stellen.
Wie auch immer. Entscheidend ist an dieser Stelle: es gibt eine enorme Differenz zwischen der Datenmenge, die ständig auf uns einströmt, und dem, was wir auswählen, um es unserer näheren Aufmerksamkeit zu unterwerfen.
Widerstandskräfte
Es gibt unterschiedliche Begrifflichkeiten für die individuellen und kollektiven Kräfte, die in uns wirken, um Störungen, Gefahr, Stress und Bedrohung zu widerstehen. Wir kennen die Begriffe „Abwehrmechanismus“ oder „Widerstand“. Wir können sie auch als eine Art Immunabwehr verstehen. Diese Widerstandskräfte wirken an unserer bewussten Wahrnehmung vorbei, oder besser ihr voraus, denn sie setzen schon vor der ersten Grenze ein. Das müssen sie auch, sonst würden wir von Informationen überschwemmt.
Eine ganz grundlegende Form, dem zu widerstehen, besteht darin, die Reizschwelle zu erhöhen. Das ist auch die erste Widerstandskraft, die bereits Säuglingen und Kleinkindern zur Verfügung steht, und sie ist die letzte, die ganz alte Menschen aufweisen. Eine Erhöhung der Reizschwelle geht aber mit jeder Fokussierung der Aufmerksamkeit einher.
Was mit dem Nicht-Hingucken beginnt und mit dem „So tun, als sei nichts“ als Leugnung weitergeht, kann eine ganze Zeit lang gut gehen, bevor es nicht mehr gut geht. Viele von uns wissen das aus der Geschichte von Krankheiten, von Beziehungs- oder Lebenskrisen. Auch Organisationen, besonders, wenn sie nicht unmittelbar dem knallharten Wettbewerb ausgesetzt sind, aber durchaus nicht nur dann, können Jahre damit verbringen, vor der Grenze gegen die Wahrnehmung vor sich hin zu werkeln, und manchmal verschlafen sie die Signale auch zu lange.
Eine Frage der Aufmerksamkeit
Richtung und Ausmaß unserer Aufmerksamkeit sind nicht nur durch unsere biologischen Begrenzungen und Verfassungen geformt (alert/müde, hungrig/satt, aufmerksam nach innen/aufmerksam nach außen etc.), sondern auch durch den ‚Secret Service‘ unserer Absichten, unserer Rollenidentität und unseres Bedürfnisses nach Kontinuität und Stabilität.
Das Ergebnis:
- Wo wir nicht hinschauen, sehen wir nichts. Wegschauen ist ziemlich leicht. Eine kleine Änderung unserer Kopfhaltung reicht meist.
- Wo wir nicht hinhorchen, hören wir nichts. Ist allerdings schon schwieriger als nicht hinzuschauen, weil wir unsere Ohren, anders als unsere Augen, nicht abwenden oder gar schließen
können.
- Wo wir nicht hinspüren, fühlen wir nichts. Das ist am aufwändigsten, weil Gefühle so fast unabweisbar körperlich real sind. Andererseits müssen sie sich erst einmal gegen eine Reihe kultureller Vorannahmen und Vorurteile durchsetzen, bevor die meisten von uns bereit sind, sie als belastbare sinnliche Informationen in Sprache zu fassen …
Während also die Grenze gegen die Wahrnehmung dafür sorgt, dass wir unsere Absichten und Ziele verfolgen können, verwandelt sie sich in transformatorischen Krisen zur ersten großen Hürde, die es zu überwinden gilt.
zum Weiterlesen: Grenze gegen die Information
Dieser Text ist ein Auszug aus der Buchreihe "Transformatives Coaching und Mentoring".
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