von Jeanne Thon
Arbeit in einem Team, dem die Führung fehlt, wo die Lauten die Leisen übertönen und die Starken die Schwächen anderer ausnutzen, macht mitunter krank oder bringt Beteiligte an andere Grenzen.
In einer solchen Konstellation wendet sich Frau W. mit dem Anliegen an mich, „auf Augenhöhe“ mit den Kolleg*innen zu kommen, sozusagen „ihre Frau zu stehen“. Es könne ja nicht sein, dass die letzten Arbeitsjahre in Frust und Übellaunigkeit versinken.
Gleichermaßen beherzt und zart schildert Frau W. die Geschehnisse und Interaktionen im Team. Sie liebt ihre Aufgaben, hat langjährige Erfahrungen, ist verwurzelt im Unternehmen und hat ein freundliches Wesen. Schwer zu glauben, dass zwei Kolleginnen diese Schätze nicht zu würdigen wissen.
Frau W. erkennt bald, dass es denen gar nicht um sie geht, sondern darum, die jeweils eigenen Interessen und Ziele durchzusetzen. Dabei nutzen die Kolleginnen den beliebten Weg des geringsten Widerstandes. Und den finden sie über Frau W., die so nett ist, immer jeden Ball aufzufangen, der ihr zugeworfen wird. So nutzen die Kolleginnen die Bereitschaft von Frau W. zu Kooperation und Verantwortung aus, um ihr eigenes (Arbeits)Leben leichter zu machen.
Wo sollen nun der Mut und die Stärke herkommen, den Ball nicht mehr aufzufangen? Wie kann Frau W. dem Reflex, für Harmonie zu sorgen, widerstehen, wie eine klare Haltung einnehmen?
Nach einer Situation gefragt, in der Frau W. schon einmal in ihrem Leben „ihre Frau gestanden hat“, erinnert sie sich ganz spontan - und weit zurück. Tränen fließen. Es braucht etwas, bis Frau W. die Erinnerung schildern kann. Es war zu DDR-Zeiten. Sie und ihr Mann jung verheiratet. Das erste Kind ganz klein. Alle noch wohnhaft bei den Schwiegereltern. Seit drei Jahren im Wartestand auf eine eigene Wohnung. Nun hofften sie endlich auf die Zuteilung. Wider Erwarten kam ihr Mann mit der Nachricht nach Hause, sie hätten erneut eine Ablehnung und ein Arbeitskollege stattdessen die Zusage bekommen. Da war sie über sich hinaus gewachsen. Das konnte nicht wahr sein! Eine solche Ungerechtigkeit! Sie überlegte genau, was sie der zuständigen Stelle zu sagen hatte und konnte die ganze Nacht vor Aufregung nicht schlafen. Am nächsten Tag ging sie, entgegen den Bitten ihres Mannes, lieber kein Aufsehen zu erregen, um ihrem Anliegen Gehör zu verschaffen – und wurde gehört. Wenige Monate später durfte die Familie in eine Neubauwohnung einziehen.
Die Kraft der Stimme der Gerechtigkeit, die Macht der Klarheit, der Mut, sich zu zeigen und die unbändige Freude darüber, Ängste überwunden und einen Platz eingenommen zu haben, aus diesen Quellen hat Frau W. damals geschöpft.
Diese lang zurückliegende Erfolgsgeschichte hat Frau W. erinnert, an ihre Quellen. Diese verleihen ihr heute wieder die Kraft, ihre Stimme zu erheben und ihren Anliegen Ausdruck zu verleihen, den Mut, klar und deutlich für ihren Beitrag einzustehen.
Die Kolleginnen staunen, während Frau W. ihre unbändige Freude am Leben und an der Arbeit genießt.
Ich selbst habe in diesem Coaching die Energie spüren dürfen, die innere Quellen entfalten, wenn Frau sie freilegt und sprudeln lässt. Das macht mir Lust auf mehr.
Mehr Ursprung.
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Waltraud Wullenwever (Freitag, 15 Januar 2021 21:05)
DANKE für diese Erlaubnis und Ermutigung! Fühle mich sehr an meinen eigenen Prozess erinnert - hatte nämlich bis vor Weihnachten selbst ein Trafo-Coaching. Tiefes Mitschwingen!