von Rainer Molzahn
Im zweiten Teil zu den 5 Archetypen an der Grenze zum veränderten Handeln schauen wir uns diese beiden Dynamiken an: den Verrat an der Komplizenschaft der Opfer und den Verrat an den Hoffnungen der Getreuen.
Egal welcher archetypische Weg für unseren Coachee dran ist, hier verschränken sich der individuelle und der kollektive Prozess einer Veränderung.
Verrat an der Komplizenschaft der Opfer
Wenn das Ergebnis der Reise zu uns selbst darin besteht, dass wir den Schritt wagen wollen, unseren Leuten gegenüber für eine Sache, an die wir glauben, in die Führung zu gehen (also die anderen von dieser Sache zu überzeugen, sie zum Folgen zu bewegen und für diesen Versuch die Verantwortung zu übernehmen) – dann gibt es auch hier das Potenzial, dass genau diese anderen – deren Gleichrangige wir bisher waren – sich von uns verlassen und verraten fühlen. Schließlich haben wir uns aus der Gleichheit herausbegeben, wir haben die Gemeinschaft derer verlassen, die unterschiedslos Dingen aus dem Außen (von links, rechts, oben, unten) ausgesetzt waren, ohne für eine Antwort auf diese Dinge unmittelbar rechenschaftspflichtig zu sein.
Dies wird besonders anschaulich, wenn wir im Prozess des In-Führung-Gehens auch noch einen höheren hierarchischen Rang erwerben, also eventuell denen, mit denen wir bisher in Gleichheit verbunden waren, direkt und disziplinarisch vorgesetzt sind. Was nichts anderes wäre als die natürliche Folge eines entschlossenen Versuchs, Verantwortung für die gemeinsame Antwort zu übernehmen. Jede Person, die jemals den Schritt gewagt hat, ein Team zu führen, dessen Mitglied sie vorher war, ist unser Zeuge.
Ähnlich wie in dem Fall, dass wir unsere Gemeinschaft verlassen, weil wir nicht mehr ertragen und mitmachen wollen, was in ihr vor sich geht, werden wir zunächst einmal nichts von den Geschichten mitbekommen, die sich in unserer Abwesenheit von den Zurückgebliebenen über Art und Ausmaß unseres Verrates erzählt werden.
Im ersten Fall, weil wir geographisch weit weg, im zweiten, weil wir hierarchisch übergeordnet sind; in beiden Fällen nicht mehr Mitglied desselben ‚Wir‘. Aber so, wie das Leben eben spielt, kann es uns natürlich passieren, dass wir im ersten Fall irgendwann in die alte Heimat zurückkommen und im zweiten, dass wir, zum Beispiel als Opfer irgendeiner strategiegeschuldeten Restrukturierung, wieder mitten zwischen denen landen, aus deren Loyalität wir uns mit unserem Aufstieg verabschiedet hatten. In beiden Fällen droht uns dann irgendeine Form von später Rache der früheren selbstidentifizierten Opfergemeinschaft.
Und wenn die geschieht, geht vielleicht das Täter-Opfer-Elend in die nächste Runde …
Verrat an den Hoffnungen der Getreuen
Auch die fünfte Variation der Gründe, uns an Grenze 4 als Person zeitweilig über unsere Rolle zu erheben, wollen wir hier noch erwähnen im Sinne des Potenzials, uns an Grenze 5 mit der Verratsthematik zu konfrontieren: die nämlich, dass wir – vielleicht nach heftigen inneren Verhandlungen, nach Rückbindung an unsere Träume und Anfänge, unsere Siege und Niederlagen, unseren Mut und unsere Demut – schließlich anerkennen, dass unsere Rolle und ihr unpersönlicher Beitrag zum Ganzen („das Amt“) in letzter Instanz wichtiger für das Ganze sind als alles, was wir in unserem persönlichen Ehrgeiz gerne mit ihr machen möchten. Dienen.
Joschka Fischer, erster ‚grüner‘ Außenminister Deutschlands zu Zeiten von 9/11 und Irak-Krieg, wird mit der Aussage zitiert, er wäre angetreten, das Amt zu verändern, und er hätte in Summe feststellen müssen, dass es ihn veränderte. In jüngster Vergangenheit war es tief beeindruckend zu bezeugen, mit welcher schier unglaublichen Disziplin sich Barack Obama jeglicher persönlich oder politisch gefärbter Kommentare zu Donald Trump enthielt (der ihn immer wieder auf das Persönlichste angegriffen hatte), nachdem jener, sicher zum persönlichen Entsetzen Obamas, tatsächlich zum Präsidenten gewählt worden war, angetreten mit der geradezu evangelikalen Absicht, alles rückgängig zu machen, was Obama für das Land und den Planeten versucht hatte zu tun.
Was hätten wir nicht dafür gegeben, Zeugen der privaten Unterhaltungen gewesen zu sein, in denen Barack sich mit seinen Vertrautesten beriet, wie er sich als Ergebnis dieses Ringens zwischen Person und Rolle zu verhalten hätte. Das Ergebnis jedenfalls war eine sehr persönliche und dabei makellose Verbeugung vor der Rolle – schließlich ging (und geht) es um eine der konstitutionellen Säulen der amerikanischen Demokratie. Wenn man sich derer persönlich bemächtigt, korrumpiert man die Demokratie selbst.
Auch dieses Ergebnis der Arbeit an Grenze 4, sich also im Handeln nicht über die Rolle zu erheben, sondern sich in ‚stiller Größe‘ vor ihr zu verneigen, um dem Ganzen zu dienen, birgt ein Potenzial zum Verrat. Es ist der Verrat an all denen, die ihre Hoffnungen genau darin gesetzt hatten, dass man als Person die eigene Rolle konsequenter nutzen würde, um die gemeinsame Sache voranzubringen. „Ausverkauft!“ heißt dann der bittere Vorwurf. Der ist umso bitterer, weil es keine Gelegenheit mehr geben wird, das wieder umzudrehen.
Innehalten
Und weil Verräter Täter sind (selbst wenn sie eigentlich Opfer waren), gibt es, wenn wir wirklich anders handeln als sonst immer, an Grenze 5 die Einladung zu einer weiteren großen Runde auf dem großen Täter-Opfer-Karussell, dem wir eben erst in unserer bewussten und kreativen Veränderungsarbeit an den 5 Grenzen unseres Langzeitprozesses entronnen waren – auch, wenn die, die sich jetzt zu Opfern erklären, eigentlich die Täter waren, von denen wir uns befreien mussten. Diesmal nicht nur auf individueller, sondern sogar auf kollektiver Ebene.
Das ist zum einen zutiefst ironisch, und zum zweiten blickt da ja bald niemand mehr durch, und zum dritten läuft eine kollektive Täter-Opfer-Dynamik natürlich im schlimmsten Fall auf Krieg hinaus. Das alles ist sehr ernst und überhaupt nicht unrealistisch.
An Grenze 5 verschränken sich der individuelle und der kollektive Entwicklungsprozess, und deswegen ist es hier ganz besonders wichtig, innezuhalten und zu verlangsamen, wirklich gut nachzudenken, bevor wir unbedacht weiterstürzen.
Die Kernfrage in diesen Überlegungen ist: welche Auswirkungen hat mein verändertes Handeln wohl auf die, deren persönliche Bedürfnisse und/oder unpersönliche Interessen (auch gegenüber Dritten, von denen ich fast gar nichts weiß) durch mein Handeln berührt werden? Wie werden sie wohl reagieren, wenn ich sie mit meinem veränderten Handeln und meiner veränderten Beziehungsaufnahme konfrontiere?
Letztlich wissen wir das natürlich frühestens, wenn es passiert, manches vielleicht sogar mit mehr oder weniger langer Verzögerung.
Aber das ist noch ein guter Grund mehr, vor diesem Moment sehr langsam zu machen und unser Verhalten vorbereitend durchzuspielen: Jetzt beginnen wir zu wirken, jetzt beginnen wir, ohne Vorbild und aus freier Entscheidung, Tatsachen zu schaffen. Ab jetzt sind wir voll verantwortlich. Die Frage, die sich uns jetzt stellt, die beispiellose Herausforderung, vor der wir jetzt als Graduierte unserer Abenteuerreise durch die 5 Grenzen stehen, ist: Wie können wir das auf eine Weise tun, die möglichst keine neuen Täter-Opfer-Dramen produziert? Möglichst wenig neues Unglück und Elend?
Nicht, dass wir das immer verhindern können, wir sind ja nicht allmächtig.
Aber die Frage ist es wert, sich ihr in aller Sorgfalt zu stellen.
Dieser Text ist ein Auszug aus der Buchreihe "Transformatives Coaching und Mentoring".
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